Persönliche Haftung von Vorständen wegen fehlenden Compliance-Managements („Boeing 737 MAX“)

Persönliche Haftung von Vorständen wegen fehlenden Compliance-Managements („Boeing 737 MAX“)

Das für das Gesellschaftsrecht der U.S.A. prägende Gericht, der „Delaware Chancery Court“, hat am 07.09.2021 im Rahmen einer verfahrensrechtlichen Vorfrage entschieden, dass Vorstände des Flugzeugherstellers Boeing in Zusammenhang mit den Unglücken der Boeing 737 MAX-Maschinen grundsätzlich direkt haftbar gemacht werden könnten, sollten sie bestehende Compliance-Management-Programme des Boeing-Konzerns nicht sorgfältig beaufsichtigt haben. Die Entscheidung steht im Einklang mit dem internationalen Rechtsprechungstrend, Geschäftsleiter für das Fehlen effektiver Compliance stärker persönlich in Anspruch zu nehmen. Dies zu verstehen, ist insbesondere für Unternehmen wichtig, deren Geschäft Bezug zu den U.S.A. hat und deshalb unter Umständen der U.S.-Gerichtsbarkeit unterfällt.

Link zur Entscheidung.

Problemstellung: Nicht nur im Falle von Großschadenereignissen wie im Fall der im Oktober 2018 („Lion Air 610“) und im März 2019 („Ethopian Airlines 302“) verunglückten Boeing 737 MAX-Flugzeuge kann sich die Frage nach der direkten persönlichen Verantwortung der Geschäftsleitungsorgane stellen. Zwar werden pressewirksam neben solchen Großschadensereignissen vor allem Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht, Verstöße gegen Geldwäsche-Regularien, Schmiergeldzahlungen, vielfache Diskriminierung am Arbeitsplatz und Umweltverschmutzung verhandelt. Zwischenzeitlich ist es allerdings gesicherte Erkenntnis, dass jegliche Rechtsverletzungen durch Unternehmen, so sie denn mit einer gewissen Systematik erfolgen, auf ein fehlerhaftes Compliance-Management hindeuten und damit zu einer persönlichen Haftung der Geschäftsleitungsorgane führen können.   

Leitentscheidung in Deutschland: Insoweit wegweisend und breit beachtet hat das Landgericht München I mit seinem „Siemens/Neubürger“-Urteil (10.1.2013 – 5 HK O 1287/10) den ehemaligen Finanzvorstand der den Siemens-Konzern beherrschenden Siemens AG zur Zahlung von 15 Millionen EUR Schadenersatz verpflichtet. Er habe seiner Verantwortung als Vorstand nicht genüge getan, weil er kein funktionierendes Überwachungssystem zur Verhinderung von Schmiergeldzahlen für den Geschäftsbereich „Siemens Communication Systems“ eingerichtet hatte.

Rechtlicher Hintergrund in Deutschland: Wenn die Haftung von Geschäftsleitungsorganen wegen fehlender Compliance im Raum steht, geht es im Kern um die Verletzung von Organisationspflichten eines gewissenhaften Geschäftsleiters. Zwar kann ein Geschäftsleiter eine größere Unternehmung nicht führen, ohne eine professionelle arbeitsteilige Organisation einzurichten und damit Handlungspflichten weitestgehend an Mitarbeiter zu delegieren. Und es ist gesellschaftsrechtlich anerkannt, dass ein Geschäftsleiter nicht die Verpflichtung hat, jede einzelne Handlung von Mitarbeitern zu kontrollieren. Allerdings verpflichtet insbesondere auch das deutsche Gesellschaftsrecht (§ 93 Absatz 1 Aktiengesetz, § 43 Absatz 1 GmbH-Gesetz) den Geschäftsleiter dazu, Kontrollmechanismen und Risikomanagement-Systeme zu etablieren, welche sich zur Überwachung der ordnungsgemäßen Ausführung der Handlungspflichten durch die Mitarbeiter eignen. Sind solche Kontrollmechanismen (einschließlich dokumentierter Arbeitsanweisungen, Schulungsprogramme und Personalauswahlverfahren) nicht vorhanden, kann dies die persönliche Verantwortung des Geschäftsleiters wegen Organisationsverschuldens begründen (§ 93 Abs. 2 Aktiengesetz, § 43 Absatz 2 GmbH-Gesetz). Das bedeutet, dass Kehrseite des Vorteils, Handlungspflichten umfassend an Mitarbeiter delegieren zu können, die Pflicht ist, ein effektives internes Kontrollsystem einrichten und fortlaufend justieren zu müssen.

„Caremark“-Rechtsprechung des „Delaware Chancery Court“: In der „Boeing 737 MAX III“-Entscheidung bezieht sich das Gericht auf seine sogenannte, seit dem Jahr 1996 fortgeschriebene „Caremark“-Rechtsprechung. Diese Rechtsprechung konkretisiert den Sorgfaltsmaßstab, den Geschäftsleitungsorgane zu beachten haben, wenn sie ihrer Pflicht zur Überwachung der Organisation nachkommen. Dabei steht besonders die Pflicht der Geschäftsleitungsorgane im Fokus, sich die für gute Entscheidungen („business judgment“) erforderlichen Informationen zu beschaffen („information base“).

Vorwurf der Aktionäre: In dem der „Caremark-Rechtsprechung“ ursprünglich zugrundeliegenden Rechtsstreit warfen Aktionäre der Apotheken-Kette „Caremark“ den Vorständen der Apotheken-Kette vor, die laufenden Geschäfte der Kette nicht hinreichend überwacht zu haben. Sie hätten nicht dafür gesorgt, dass einzelne Caremark-Apotheken nicht entgegen gesetzlicher Verbote geldwerte Belohnungen an Ärzte im Gegenzug dafür leisten, dass die Ärzte staatlich unterstützte Patienten („Medi-Care“, „Medic-Aid“) an die Caremark-Apotheken weiterleiten.

Verteidigungslinie der Vorstände: Die Vorstände von Caremark wandten dagegen ein, sie hätten die für die Einhaltung des Verbots erforderlichen Kontrollmaßnahmen stärker „zentralisiert“, einen „internen Pflichtenkatalog“ veröffentlicht und die Regionalleiter der Apotheken-Kette dazu verpflichtet, jegliche vertragliche Beziehung mit Ärzten zu prüfen und abzuzeichnen. 

Sorgfaltsmaßstab: Der Chancery Court entschied, dass der Vorstand nicht bloß die genannten Kontrollmechanismen hätte einführen müssen. Zudem hätte er diese derart durch Informations- und Berichterstattungssysteme ergänzen müssen, dass dem Vorstand die relevanten Informationen zur Einhaltung der Gesetze und zur Entwicklung des Geschäfts rechtzeitig und genau zur Verfügung gestanden hätten. Wenn ein solches Informations- und Berichtserstattungssystem nicht bestünde oder der Vorstand die Effektivität dieses Systems nicht selbst persönlich, also auf Vorstandsebene regelmäßig überwacht, könne der Vorstand für Gesetzesverletzungen direkt persönlich haftbar sein.

Anwendung der „Caremark“-Rechtsprechung des „Delaware Chancery Court“ auf den Streitfall „Boeing 737 MAX“:

Vorwurf der Aktionäre: Im zugrundeliegenden Streitfall argumentierten die klagenden Aktionäre, dass dem Boeing-Konzernvorstand ein dreifaches Unterlassen vorzuwerfen sei. Erstens habe der Boeing-Konzern ein Informations- und Berichterstattungs-System zur Kontrolle von Sicherheitsproblemen von Boeing-Flugzeugen nicht eingerichtet. Zweitens habe der Boeing-Konzern eklatante Warnsignale („red flags“) ignoriert und damit seine entsprechende Untersuchungspflicht verletzt. Drittens habe der Boeing-Konzern den Vorstandsvorsitzenden zwar aufgrund dessen vermuteter Mit-Verantwortlichkeit für die Unglücke entlassen, ihm aber die volle erfolgsorientierte Vergütung zugestanden.

Verteidigungslinie des Vorstands: Die Vorstände beantragten Klageabweisung mit der Argumentation, dass die von den Klägern vorgetragenen Tatsachen die Voraussetzungen der Caremark-Rechtsprechung von vornherein nicht erfüllen.

Entscheidung des „Delaware Chancery Court“: Der Chancery Court wies den Klageabweisungsantrag des Vorstands ab. Er prüfte den Klagezulassungsantrag der Aktionäre auf der Grundlage des Caremark-Standards: Hat es der Vorstand nach den vorgetragenen Tatsachen versäumt, ein geeignetes Informations- und Berichterstattungs-System einzuführen? Hat der er es nach den vorgetragenen Tatsachen versäumt, nachdem ein solches System eingeführt worden ist, dessen Betrieb zu überwachen und hat er dadurch Risiken oder Probleme, die die Aufmerksamkeit eines gewissenhaften Vorstands gefordert hätten, nicht zur Kenntnis erhalten? Bei der Beantwortung dieser Fragen verwies der Chancery Court zunächst darauf, dass der Vorstand seine Pflicht zur Kontrolle unternehmenskritischer Risiken „rigoros ausüben“ müsse. Dies setze eine „Sensibilität für Compliance-Fragen, welche für das Bestehen des Unternehmens kritisch seien“ voraus. 

Zur Begründung seiner Entscheidung führte der Chancery Court weiter aus:

  1. Es sei vorgetragen, dass der Vorstand keinen Ausschuss eingerichtet habe, der direkt mit der Überwachung der Sicherheit von Flugzeugen befasst gewesen sei. Der Vorstand als Ganzes habe danach die Sicherheit der Flugzeuge nicht formell überwacht oder regelmäßig erörtert. Nach dem Absturz von „Lion Air 610“ habe das Protokoll der Vorstandssitzungen keine spezifische Diskussion über die Sicherheit der Flugzeuge vermerkt. Stattdessen habe das Protokoll gezeigt, dass sich die Diskussionen –neben förmlichen „Beschwörungen von Qualität und Sicherheit der Flugzeuge“ – auf die Wiederherstellung von Gewinnen und Effizienz der Betriebsabläufe konzentriert haben.
  2. Der Vorstand habe nach dem Klagevortrag von den operativ Verantwortlichen keine regelmäßigen Berichte über Sicherheitsfragen verlangt. Nur „ad hoc“ hätten die operativ verantwortlichen Mitarbeiter mit dem Vorstand über Sicherheitsfragen diskutiert. Der Vorstand hätte „die Zusicherungen und Meinungen der operativ verantwortlichen Mitarbeiter passiv hingenommen“.
  3. Der Vorstand hätte nach dem Klagevortrag auch gewusst, dass Sicherheitsfragen bedeutsam seien und dass seine Aufsichtsmaßnahmen verbesserungsbedürftig waren.
  4. Schließlich sei vorgetragen worden, dass der Vorstand die Zusicherung der operativ verantwortlichen Mitarbeiter, dass das Flugzeug der Baureihe „727 MAX“ sicher sei, „passiv akzeptiert“ habe. Selbst nach deutlichen Warnsignalen, wie dem Absturz von „Lion Air 610“, habe der Vorstand sich nicht veranlasst gesehen, konkrete Maßnahmen zur Risikominimierung zu ergreifen.  

Roland C. Kemper LL.M., Rechtsanwalt

Dr. Arne Löser, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Fachanwalt für Insolvenzrecht