Recht auf Überlassung anonymisierter Abschriften von Gerichtsentscheidungen

Mit einem Beschluss vom 5. April 2017 (Az.: IV AR (VZ) 2/16) hat der Bundesgerichtshof nun klargestellt, dass der Gerichtsvorstand am Verfahren nicht beteiligten Dritten in Zivilsachen regelmäßig anonymisierte Abschriften von Urteilen und Beschlüssen erteilen kann, ohne dass dies den Anforderungen an die Gewährung von Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 2 ZPO genügen muss. Hintergrund der Entscheidung war, dass eine Bank in einem Zivilprozess zur Zahlung von Schadensersatz wegen fehlerhafter Anlageberatung verurteilt worden war. Sie war im Ausgangsverfahren vor dem Landgericht unterlegen und hatte,  nach einem entsprechenden Hinweisbeschluss der Berufungskammer, das von ihr gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen. Nachfolgend beantragten dann die weiteren Beteiligten, bei denen es sich um Rechtsanwälte handelte, beim Präsidenten des Oberlandesgerichts hilfsweise die Übersendung einer Kopie des dort ergangenen Beschlusses. Denn sie führten eine Reihe von Verfahren, in denen jeweils eine vergleichbare Fallgestaltung zugrunde läge. Die verurteilte Bank widersetzte sich der begehrten Übersendung der Entscheidung, weil dem, auch in anonymisierter Form, deren überwiegende Geheimhaltungsinteressen entgegenstünden. Gleichwohl bewilligte der Gerichtspräsident die Übersendung einer anonymisierten Kopie des Hinweisbeschlusses an die weiteren Beteiligten, wogegen die Bank einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem Oberlandesgericht stellte, welche jedoch zurückgewiesen wurde. Im hiergegen zugelassenen Rechtsbeschwerdeverfahren bestätigte der vierte Zivilsenat nunmehr die Rechtmäßigkeit der Bewilligung. Dabei stützt sich der entscheidende Senat maßgeblich darauf, dass die Überlassung anonymisierter Entscheidungsabschriften mit der Gewährung von Akteneinsicht nicht vergleichbar sei, so dass § 299 Abs. 2 ZPO weder unmittelbar noch entsprechend Anwendung finde. Ein wesentlicher sachlicher Unterschied bestünde nämlich darin, dass Gerichtsakten personenbezogene Daten der Parteien und anderer Beteiligter enthielten. Aus diesem Grund stelle die Gewährung von Akteneinsicht einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung derjenigen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht würden. Dagegen sei eine anonymisierte Entscheidung kein solch bedeutender Aktenbestandteil, sondern nur ein Auszug, bei dem essenzielle Teile, nämlich die Namen der Beteiligten und gegebenenfalls weitere individualisierende Merkmale, fehlten. Dritte enthielten so keinen umfassenden Einblick in die geschützten privaten und geschäftlichen Unterlagen der Parteien. Die Weitergabe anonymisierter Entscheidungsabschriften an Dritte sei daher Teil der öffentlichen Aufgabe der Gerichte, Entscheidungen zu veröffentlichen. Das folge aus dem Rechtsstaatsgebot sowie dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Der Bürger müsse, zumal in unserer zunehmend komplexen Rechtsordnung, zuverlässig in Erfahrung bringen können, welche Rechte er habe und welche Pflichten ihm oblägen. Ohne eine ausreichende Publizität der Rechtsprechung sei dies aber nicht möglich. Für diesen Anspruch bedürfe es auch keiner speziellen gesetzlichen Regelung. Die Publikationspflicht habe ihre Grundlage daneben auch in dem leitenden Grundsatz des Prozessrechtes der Öffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen und Urteilsverkündungen. Etwas anderes gelte auch nicht für einen Hinweisbeschluss, wenngleich dieser selbst nicht der Rechtskraft fähig und öffentlich verkündet sei. Soweit im Einzelfall ausnahmsweise schutzwürdige Belange durch die Weitergabe einer anonymisierten Abschrift verletzt sein könnten, könne dem durch die Schwärzung von Urteilspassagen, welche über die übliche Anonymisierung hinaus gingen, Rechnung getragen werden. Im äußersten Fall sei auch ein gänzlicher Ausschluss der Veröffentlichung vorstellbar. Ein solcher Ausnahmefall läge hier jedoch nicht vor.

Dr. André Neumann, Fachanwalt für Strafrecht, Fachanwalt für Steuerrecht, Zertifizierter Berater für Steuerstrafrecht (DAA)